Du bist freischaffender Historiker, was tust du eigentlich genau?
Einerseits erhalte ich Aufträge von Privatpersonen. Da geht’s in der Regel um das Festhalten von Lebenserinnerungen, Familienstammbäume oder um eine Einschätzung alter Dokumente. Andererseits arbeite ich für Institutionen, weil sie ihr Archiv erschliessen wollen, weil sie einen runden Geburtstag vor sich haben oder weil sie nichts über ihre Anfänge wissen. Ab und zu initiiere ich selbst ein Projekt, so auch bei meiner Arbeit über den Tierpark Dählhölzli. Am Ende der Projekte steht oft ein Buch. Ich mache aber auch Ausstellungen, Führungen oder Podcasts, und ich unterrichte im Herbst an der Volkshochschule. Meine Arbeit ist sehr vielseitig, und stets habe ich es mit interessanten Menschen zu tun.
Wie kommt man auf die Idee, Zootiere zu erforschen?
In Darstellungen zur Geschichte von Zoos oder in Arbeiten unter dem Schlagwort «Tiergeschichte» tauchen zahlreiche Anekdoten über Wildtiere auf. Woher das Wildtier kam oder was mit ihm danach geschah, sofern die Anekdote nicht dessen Ableben schildert, erfährt man selten. Hier hakte ich ein. Zu meinem eigenen Erstaunen sind Zootiere, selbst Wildfänge, also Tiere, die in freier Wildbahn gefangen wurden und dann in den Tierpark gelangten, gut dokumentiert. Eine wichtige Voraussetzung für meine Arbeit, denn ohne Quellenmaterial bliebe es bei der Fragestellung.
Was ist am Dählhölzli spannend für einen Historiker?
Die Tiere leben nicht abgeschieden von der Stadt in einer stillen, grünen Oase. Im Gegenteil. Der Tierpark funktioniert wie eine öffentliche Bühne. Was sich hier ereignet, ist für die Menschen von Belang. Deswegen erweisen sich die Zootiere als Seismografen, die gesellschaftliche Erschütterungen präzise registrieren.
Welches der von dir beschriebenen Zootiere ist dir am liebsten und warum?
Schwierig zu beantworten. Sie faszinieren mich alle. Vielleicht die Wildkatze Céline, weil mich die 1950er- und 1960er-Jahre besonders interessieren. An sich sind Wildkatzen keine attraktiven Zootiere. Da sie scheu sind, verstecken sie sich, so dass das Publikum sie kaum zu sehen bekommt. Für die damalige Tierparkdirektorin Monika Meyer-Holzapfel waren sie wichtig, weil mit den Zuchterfolgen das Ansehen des Tierparks europaweit stieg. Zudem wagte die Tierparkdirektorin Wiederansiedlungsversuche an den schneearmen Hängen über dem Brienzersee, die zwar scheiterten, aber das Konzept dahinter ist aktueller denn je.
Wie reagieren Kollegen aus Historikerkreisen auf deine Forschungsthemen?
Sie sind erstaunt, wie sehr sich die Zeitumstände in den Biografien der Wildtiere spiegeln.
Wenn du eine Carte Blanche hättest, was würdest du dir als nächstes Thema vornehmen?
Wie schon erwähnt, ist die Tierparkdirektorin Monika Meyer-Holzapfel, die erste Frau, die in Europa einen Zoo führte, eine spannende Persönlichkeit. Über die Tierpsychologin und Verhaltensforscherin der ersten Stunde würde ich einen Tatsachenroman schreiben, am liebsten in einem Schreibatelier an einem anregenden Ort.
Geplante Kurse von Roger Sidler:
Im August findet der kulinarisch-historische Vortrag Riz Casimir – Aufstieg und Fall eines Nationalgerichts statt und ab Oktober bietet er im Kurs Geschichte des Tierparks Dählhölzli einen Einblick in Tierbiografien im Wandel der Zeit.
